Texte
KATALOGTEXT VON HARRY WALTER
Die gestickte Welt von Angelika Zeller ist
naiv und perfid zugleich. In hinterhältigen Schlingen führt
sie uns über eine
kindliche Bildsprache in die Untiefen der Seele; dorthin, wo falsche
Gefühle zu echten Gesichtern werden, und umgekehrt. Doppelbödiges
ist hier gleich mehrfach angelegt. Die mit recht biederen Vorstellungen
behaftete Praxis geduldigen weiblichen Stickens wird von der Künstlerin
fast liebevoll aufgegriffen, um sogleich wieder – Stich für
Stich – perforiert und konterkariert zu werden. Der in die „Heimarbeit“ investierte
Fleiß amortisiert sich hier am Ende auch nicht als dekorativer
Zugewinn. Im Gegenteil: In den aus einer Unzahl bunter Fäden zusammengesetzten
Porträts kann schon aufgrund der gewählten Technik keine
malerische oder graphische Finesse aufkommen, nicht einmal der Duktus
einer Handschrift, erst recht keine versöhnliche Ornamentik. Nichts
kann sich in diesen verfitzten Porträtlandschaften wirklich zu
einem „Bild“ abrunden. Die einzelnen Fäden laufen
neben- und übereinander her, ohne je miteinander zu verschmelzen:
Wenn sie verschwinden, dann auf die andere Seite. Dort führen
sie ein konfuses Schattenleben; zum Teil sind sie abgeschnitten, zum
Teil führen sie auf abstrus anmutenden Umwegen wieder auf die
Bildseite zurück, um dort zu jener speziellen zellerschen Tiefenschärfe
beizutragen, deren haptische Qualitäten sich in einigen Fällen
zu autonomen dreidimensionalen Objekten steigert. Dann kann ein Kopf
zum Sofakissen werden, in das man allerdings nur ungern den eigenen
betten würde. Jedenfalls nicht, ohne auf schlechte Träume
zu spekulieren.
AUSZÜGE AUS EINER REDE VON UWE DEGREIF
Angesichts Angelika Zellers
Stickarbeiten spürt man sofort, hier
hat eine keine Scheu deutlich zu sein, und, falls erforderlich, auch
weh zu tun. Einerseits.
Andererseits rührt sie uns mit ihren Verkleinerungen und etwas altmodischen
Motiven immer wieder an. Sie lenkt unseren Blick nach hinten, löst
Erinnerungen aus. Immer wieder kreuzen sich unsere Blicke mit denen auf
den Tüchern. Dann können wir nicht anders als empathisch zu
reagieren und Mitgefühl zu entwickeln.
In Angelika Zellers Kunstwerken wirken Ferne und Nähe.
Sie legt den Fadenverlauf offen, führt die Fäden in unterschiedlichen
Schichten kreuz und quer und hebt sie als eigenständiges Gestaltungsmittel
hervor.
Wie bei einer Zeichnung Alberto Giacomettis verdichten sich längere Striche
zu einem Motiv.
Aus meiner Sicht schafft Angelika Zeller eine Art kritischen Realismus. Zwar
macht sich die Künstlerin nicht im historischen Sinne daran schlechte
gesellschaftliche Verhältnisse zu benennen, viel mehr konfrontiert sie
uns mit Situationen die gleichermaßen Leid verursachen können.
Wer regelmäßig in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst geht,
der lernt Irritationen auszuhalten. Man könnte auch sagen, der lernt ihnen
auszuweichen. Indem man sich die Sichtweise der Künstler zu eigen macht,
sich auf ihren Standpunkt einlässt, gilt die Provokation nicht mehr einem
selbst. Indem man die Richtung des Angriffs nachvollzieht, entschärft
man ihn.
Allerdings will mir das bei Angelika Zellers Kunst nicht immer gelingen.
Tücher die sie in Bearbeitung hat verschmutzen, Beschädigungen stellen
sich ein und Risse zeigen sich. Angelika Zeller konfrontiert mich mit einem
Eigensinn der mir meine Grenzen aufzeigt. Hier setzt eine nicht auf Dauer und
Beständigkeit, sondern ganz auf den Augenblick. Sie lässt meinen
Glauben an die Überzeitlichkeit von Kunst als überzogen erscheinen.
Sicherlich könnte man diese Fadenbilder in wertvolle Bilderrahmen stecken,
um ihnen etwas von ihrer Ungestalt zu nehmen, und vermutlich würde dieser
Giftentzug ein Stück weit gelingen.
Zeitgenössische Kunst ist heute ein Teil der Mode und des Lifestyle geworden,
eine Nähe zum Design und zu den Mächtigen ist für viele Künstler
programmatisch. Firmen, Banken, Behörden schmücken sich mit Ihnen.
Insofern beharren die Arbeiten von Angelika Zeller auf einem Gegenpunkt. In
ihnen kehrt das Unmodische mit Macht zurück und wird das längst Abgelegte
erneut ins Licht gestellt.
Der Kontakt mit ihnen offenbart für Momente, dass sich Dinge und Menschen überleben.
Manche Gesichter scheinen unter unseren Blicken weiter zu altern.
Dem verrinnen der Zeit gibt Angelika Zeller mit ungewöhnlichen künstlerischen
Mitteln Ausdruck.
Sie ist eine Meisterin einer Ästhetik der Traurigkeit. Der Eindruck von
etwas Verlorenem ist für mich allgegenwärtig.
TAGEBUCHAUFZEICHNUNG VON ANGELIKA ZELLER
Nicht die Zeit vergeht, wir vergehen und dabei entsteht etwas.
Heute nichts Neues. Am Morgen gehen die Bettler an meinem Atelier vorbei
zur Arbeit. Der Eine trägt eine Trompete, ein Anderer trägt
statt einem Instrument ein kleines Podest und hat sich das Gesicht
weiß bemalt. Der Gitarrist scheint krank zu sein. Mittags gehe
ich ins Rewe. Ein Kind sitzt in einem Einkaufswagen und schwenkt mit
einer Mettwurst herum. Es lacht. Ich lache zurück. Im Atelier
beobachte ich einen Besenreißer am Bein und lese in den Tagebüchern
meiner Mutter. 1988 ist sie mit einem Freund und einer Schaufel nach
Polen gereist, um ihren Bruder zu suchen. Er wurde dort 1944 von Partisanen
erschossen. Sie hat seinen Ort gefunden. Im Tagebuch ihre Aufzeichnungen
dieser Reise. Über eine Seite nur bunte gepresste Sommerblumen
mit Tesafilm festgeklebt. Es sieht schön aus. Darunter steht Treblinka
in ihrer geschwungenen Schrift. Daniela kommt vorbei und will wissen,
was es hier Neues gegeben hat während ihrer Abwesenheit. Bevor
sie nach Berlin abgereist ist, gab es auf der Kreuzung vor meinem Atelier
einen Auffahrunfall. Als sie in Berlin war ereignete sich der gleiche
Auffahrunfall noch einmal. Mit denselben Leuten. Am Abend setze ich
mich auf den Gehweg vor meinem Atelier und stelle ein Pappschild vor
mir auf. SIE HABEN HUNGER steht darauf. Die Bettler kommen von der
Arbeit zurück und gehen an mir vorbei.
|